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Grönemeyer schlägt Presse gaga

Im Dezember 2014 echauffierten sich zahlreiche Medien und deren Protagonisten, Herbert Grönemeyer habe auf zwei Pressefotografen eingeschlagen, als diese ihn in  der Öffentlichkeit fotografieren wollten. Durchgängig war von “Ausraster” und “Angriff” die Rede.
Weil Journalisten notorisch unfähig zur Selbstkritik sind und bis auf wenige, klar benennbare Ausnahmen einen der Polizei nicht unähnlichen Korpsgeist zelebrieren, hatten wir schon damals an der “Berichterstattung” erhebliche Zweifel, die – zugegeben – von einer grundlegenden Sympathie zu dem angeblichen Schläger gestützt wurde. Aber die meisten Berichte servierten zu sehr als Fakten, was zu diesem Zeitpunkt allenfalls Annahmen und Interpretationen sein konnte. Weiterlesen

Lesebeute: Statistik

Auf zwei aufschlussreiche medienkritische Beiträge zur Statistik wollen wir hier verweisen, weil sie über den Tag hinaus lehrreich sein können:

* Zur Aussagekraft von Befragungen und dem Mut zur Kristallkugel: Wie die Leute vom Stern Unsinn in eine britische Studie hineininterpretierten (Der Graslutscher, 17. Januar 2019)

* Warum Besuche und Besucher zwei völlig verschiedene Größen sind: Zur Kenntnis … vom Nutzen der Zahlen (Peter Grabowski, der kulturpolitische reporter, 16. Januar 2019)

Siehe hierzu auch bei uns: 
* Statistik für Angstfreie (Korinthe 85)
Die ewig falsch verstandene “Polizeiliche Kriminalstatistik” (von Prof. Henning Ernst Müller)
* und ein paar andere Beiträge

Korinthe (87): Eingebung statt Einblick

>>Ein Narrativ ist eine „sinnstiftende Erzählung“, so betörend, dass sie unsere Wahrnehmung der Realität verändert. […] Solche Meistererzählungen steuern, wie wir unsere Welt sehen und uns verhalten. […] Es sind Rechtfertigungen für unser Handeln und Politik.<<

So erläutert Roland Tichy, was es mit Narrativen auf sich hat, bei denen “die exakten Grenzen zwischen Tatsachen, Erfindung und Hoffnung” verschwinden.

Bei seinen Beispielen bleibt Tichy überwiegend vage. Sein Bezug zur Relotius-Debatte ist grobschlächtig:

>>DER SPIEGEL ist dafür bekannt geworden, dass er Storys publizierte, die solche Narrative emotional aufladen und ausschmücken. Mit der Realität haben sie nichts zu tun. Es geht um die Bestätigung dessen, was wir glauben sollen. Journalismus wird dafür nur mißbraucht.<<

Bei diesem Pauschalvorwurf (einzelne Spiegel-Artikel haben mit der Realität nichts zu tun) wie bei all seinen Einzelstichworten verzichtet Tichy auf jeglichen Beleg: er behauptet einfach, irgendetwas sei ein Narrativ, also eine mehr geglaubte als faktenbasierte Erzählung. Es sind natürlich die üblichen Stichworte, weil es zu ihnen eben ein eigenes einfältiges Narrativ gibt: Weiterlesen

Nenne mir deine Quelle

Der “Fall Relotius” führt, wie es erwartbar war,  zu öffentlichen Grundlagendiskussionen. Das ist schön. Ein Problem, über das Spiegelkritik schon oft geschrieben hat, wird bei diesen Gesprächen selbst deutlich: die mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft von Journalisten, Fakten und Fiktionen zu trennen.

Das Problem ist normalerweise nicht die falsche Hausnummer in einem Artikel, und es ist sicherlich auch nicht die erfundene Zahl von Treppenstufen in irgendeiner Reportage. Das Problem ist, sauber zu sortieren, was eine beschreibbare Wirklichkeit ist und was die Interpretation dieser oder sogar eigener Imaginationen. Es geht um Recherche.

Beispiel 1: die meisten

In einer Auseinandersetzung um die Notwendigkeit kommentierender Einordnungen von Nachrichten schreibt der “Korrespondent von SPIEGEL ONLINE und DER SPIEGEL in Wien, Österreich” Hasnain Kazim auf Twitter: “[…] die Wahrheit ist, dass die meisten eben nicht selbst denken, sondern irgendwelchen Bullshit im Netz aufgreifen.”

Solche Zuspitzungen sind in Diskussionen selbstverständlich in Ordnung, aber zumindest wenn nach den Fakten gefragt wird, sollte man liefern können – oder eben zurückrudern: “Mir kommt es so vor, als ob…” wäre ja in Ordnung, aber nicht “die Wahrheit ist…”. (Siehe auch ergänzend auf Twitter Gesprächspartner Schlüter; im selben Gesprächsverlauf schrieb Kazim auch  auf die Frage “Was richtig ist und was nicht entscheiden Sie?”: “Wenn Sie so fragen: Ja, natürlich.”) Weiterlesen

Claas Relotius – Linksammlung zu einem Medienskandal

Der SPIEGEL und zig andere Medien haben unwahre Geschichten des Reporters Claas Relotius veröffentlicht. Gerade für den SPIEGEL mit seiner berühmten “Dokumentationsabteilung”, die angeblich penibel jedes Detail in einem Beitrag vor Veröffentlichung prüft, ist das extrem peinlich. Redakteur Claas Relotius hat zugegeben, in seinen Reportagen  kleine und große Dinge schlicht erfunden zu haben. Weil der Skandal für die gesamte Branche relevant ist, dokumentieren wir hier einige Veröffentlichungen dazu (wird fortlaufend aktualisiert). Zunächst die wichtigsten Neuerungen, dann Beiträge in betroffenen Medien selbst, danach einige besonders interessante Resonanzen. Besonders wichtige/ lesenswerte Beiträge kennzeichnen wir (vorübergehend) rot. Für Hinweise, insbesonders zu als falsch identifizierten Texten, sind wir dankbar. 

+ Die Offenbarung: SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen (Ullrich Fichtner, 19.12.2018)
Kritik an diesem reportagenhaft geschriebenen Stück (der wir uns völlig anschließen können): “Fühlen, was sein könnte” (Salonkolumnisten, 19.12.2018). Auszug:

>>[…]   ein Text, der für einen Außenstehenden völlig unerklärlich ist und Insider fassungslos machen muss. „Kurz vor dem Ende seiner Karriere kommen sich Glanz und Elend im Leben des Claas Relotius einmal ganz nah“, steht da. Ein sehr schöner Satz. Ein Romansatz. Der passende Einstieg in eine Reportergeschichte, in der wir die Büronummer von Claas Relotius erfahren und nach einer 40.000 Anschläge oder 20 Din-A4-Seiten langen Reise durch Relotius‘ beste Fake-Reportagen wiederum mit einem schönen Satz verabschiedet werden.<<

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Statistik für Angstfreie (Korinthe 85)

Es ist durchaus gesund, standardisiert zu zweifeln, wenn man gerade wieder der Auffassung  ist, man selbst (und der eigene Dunstkreis) sei dermaßen viel gescheiter als der Rest der Welt. Es kann zwar stimmen – aber gerne wird’s einfach stimmend gemacht.

Wolfgang Wetzel, “Vertreter für Bündnis´90/DIE GRÜNEN im Bündnis für Demokratie und Toleranz in der Region Zwickau”, hat auf Facebook mit gutem Quotenerfolg diese Zahlen hier gepostet:

Quelle seiner Behauptung, der “Anteil der Deutschen, die Angst haben, bei einem islamistisch motivierten Attentat zu Tode zu kommen”, läge bei 70%, dürfte eine von der  R+V Versicherung in Wiesbaden beauftragte Umfrage sein, deren Ergebnisse unter dem Titel “Die Ängste der Deutschen 2017” veröffentlicht wurden. Weiterlesen

Schnibbens Banalisierungsfabrik

Ob Cordt Schnibben wirklich geeignet ist, die besten journalistischen Produkte in Gestalt von Reportagen auszuzeichnen? Auch wenn Können und Können-entdecken nicht zusammenfallen müssen – angesichts solcher Kommentare bin ich unsicher:

Es ist völlig okay, Boulevardjournalismus doof zu finden. So wie man auch die SPIEGEL-Zeitschrift doof finden darf, manches, war Correctiv macht etc. (Wobei es natürlich auch besonders billig ist, Boulevard zu verachten, distanziert man sich damit doch nur vom Lesepöbel.) Aber wenn man für den Applaus seiner Fans so tut, als sei man mit einer Sechs-Wort-Überschrift der BILD-Zeitung ernsthaft überfordert, wird es peinlich.

Die BILD hatte heute getitelt: “Ausländer dürfen über deutsche Regierung abstimmen“. Cordt Schnibben schlägt als weitere Überschriften u.a. vor: “Schwule dürfen über deutsche Regierung abstimmen.” Warum ihm beim Assoziationsspiel zu “Ausländer” die Begriffe “Frauen” und “Schwule” einfallen, mag er vielleicht noch irgendwann erläutern; doch während die BILD-Schlagzeile journalistisch korrekt die Nachricht fokussiert, spinnt Schnibben Nonsens.
Es mag ja sein, dass er keine Erwähnung wert findet, was der BILD zum Aufmacher taugt. Das macht den BILD-Artikel (auf den Schnibben mit keinem Wort eingeht) aber nicht journalistisch falsch, fragwürdig oder irrelevant. Über die Entscheidungsmacht der SPD-Mitglieder wird ja nun tatsächlich landauf, landab diskutiert (auch unter Politologen). Da ist es schon ein relevanter Hinweis, dass über die Regierungskoalition im Zuge des Mitgliedervotums nun auch Menschen entscheiden können, die in Deutschland kein Wahlrecht haben: die also nicht mitentscheiden durften, welche Partei wie stark wird, die nun aber mitentscheiden dürfen, ob die SPD in die Regierung geht (was auch alle Nicht-SPD-Wähler betreffen wird).

Statt ihren Kollegen auf die Peinlichkeit seines Assoziationsspiels aufmerksam zu machen, treibt die bei diesem Thema derzeit unvermeidliche Anja Reschke es noch weiter, direkt bis zum Schmerzpunkt:

Immerhin verweist Reschke auf einen Text, der “soziale Zusammensetzung der Parteimitgliederschaften” thematisiert. Und trotzdem geht ihr Einwurf am BILD-Thema vorbei: denn dass die Mitgliederstruktur in Parteien nie die Bevölkerung widerspiegelt, ist bekannt und geradezu zwingend (sonst bräuchte es ja keine Parteien). Und warum die guten atheistischen Frauen nur auf Twitter groß sind, nicht aber in den Parteien, könnte Panorama ja bei Gelegenheit mal untersuchen. All das hat aber nichts mit dem Artikel der BILD zu tun. Und wer das nicht versteht, empfiehlt sich nicht gerade als Welterklärer oder Notengeber für Welterklärer.

Stattdessen bestätigen die beiden Journalisten und ihre Jünger natürlich einmal mehr, wie Medienmainstream funktioniert: nicht von irgendwo gesteuert, natürlich nicht, sondern aus freien Stücken – aufgrund gleicher Sozialisation, ähnlicher persönlicher Interessen, identischer Informationsnetzwerke etc.

Dass es bei solchen Tweets um mehr geht, als Boulevard allgemein oder speziell die BILD blöd zu finden, zeigen viele Reaktionen darauf: Das Assoziationsspiel geht weiter, den Artikel der BILD hat niemand gelesen, Falschinformationen machen die Runde, das eigene Weltbild wird  mit Freude und Phantasie ausgeschmückt – es passiert also genau das Gegenteil von dem, was Journalismus will (oder wenigstens soll). Und deshalb muss man sich über solche Twitter-Botschaften aufregen.

PS: Warum stören sich ausgerechnet Menschen, die sich für sehr weltoffen und -erfahren halten, immer an der Bezeichnung “Ausländer”, die sie doch vom eigenen Rollenspiel in der Ferne nur zu gut aus der anderen Perspektive kennen sollten? Weiterlesen

Zitate – (Korinthe 80) und Hanns Joachim Friedrichs Zitat

In einer Regionalzeitung heute früh stolperte ich über einen Satz von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der bei der Vorstellung seiner Biografie gefallen sein soll und den ich online nun hier gefunden habe:

«An meiner Wiege wurde mit Sicherheit nicht gesungen: Ich werde Bundeskanzler. Aber an Ihrer, Frau Merkel, auch nicht.» (Augsburger-Allgemeine)

Es ist ein Agenturtext von dpa, in meiner Zeitung mit Autorenzeile “Kristina Dunz” versehen. Warum ich darüber gestolpert bin? Weil ich schon im Kopf eher eine Formulierung hatte, wie sie für denselben Vorgang dann die Süddeutsche postete:

sz-merkel-schroederEin nicht unerheblicher Unterschied!
Aber so ist das mit den “Zitaten”. Die Doktorarbeit, auf die ich am häufigsten verweise, erschien 2001 unter dem Titel: “‘So habe ich das nicht gesagt!’ – Die Authentizität der Redewiedergabe im nachrichtlichen Zeitungstext”. Autor Alexander Marinos ist heute stellvertretender Chefredakteur der WAZ. In deren Online-Ausgabe findet sich, von Diana Zinkler geschrieben, der Satz ähnlich der dpa-Fassung:

„An meiner Wiege wurde nicht gesungen, dass ich Bundeskanzler werde, aber mit Verlaub Frau Merkel, an Ihrer auch nicht.“

Da wollen wir doch mal der Wahrheit die Ehre geben und abschreiben, was Phönix uns zu bieten hat:

“Wenn Sie mir erlauben, Frau Merkel, will ich darauf hinweisen, dass zwar an meiner Wiege mit Sicherheit nicht gesungen worden ist, dass ich Bundeskanzler werden würde, aber wenn Sie mir das erlauben zu sagen an Ihrer auch nicht, und zwar aus anderen Grünen mit einem völlig anderen familiären Hintergrund natürlich.”

Da haben sich also alle Berichterstatter was zurechtgebogen. “Wenn Sie mir das erlauben” ist etwas anderes als “mit Verlaub”, und die Anrede “Frau Merkel” ist alles andere als identisch mit “Frau Bundeskanzlerin”.

Aber was soll man da Korinthen kacken, wo doch ein ganzer großer Journalistenpreis mit einem falschen Zitat hausieren geht.

hanns-joachim-friedrichs-guter-journalist

“Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.” Das wird als die große Hajo-Friedrichs-Weisheit ausgegeben. Dabei ist es zusammengepanscht, und Friedrichs selbst hat sich nie als Urheber dargestellt. In seiner Autobiografie schrieb er 1994:

[…] Charles Wheeler. Er war bei der BBC mein väterlicher Freund, und von ihm habe ich mehr über Journalismus gelernt als von jedem anderen. […] Zu seinen Maximen gehörte die Erkenntnis, dass ein seriöser Journalist “Distanz zum Gegenstand seiner Betrachtung” hält, dass er sich “nicht gemein” macht mit einer Sache, “auch nicht mit einer guten Sache”; dass er nicht in lauten Jubel einstimmt oder in öffentlicher Betroffenheit versinkt; und dass er auch im Umgang mit Katastrophen “cool” bleibt, ohne “kalt” zu wirken. “Immer dabeisein, nie dazugehören”, dieses Journalisten-Motto beschreibt den Reporter Charles Wheeler wohl am treffendsten. (Hanns Joachim Friedrichs: Journalistenleben; München: Droemer Knaur, S. 70f; ähnlich später nochmal im Spiegel 13/1995 kurz vor seinem Tod, ohne Wheeler zu nennen)

Update 3.11.2021: Auf Übermedien hat Rüdiger Jungbluth das Zitat nun auch nochmal eingeordnet, “Die Wahrheit” über Ursprung und Kontext.

 

 

 

 

Unscharfe Begriffe: Gemeindeparlament

Tägliche Wiederholung macht es nicht richtig: Es gibt in Deutschland keine “Gemeindeparlamente” oder “Stadtparlamente”. Gemeinderat, Stadtverordnetenvertretung etc. sind keine Organe der Gesetzgebung (Legislative), sondern der Verwaltung (Exekutive).
Diese Unterscheidung ist keine Formsache, sondern von essentieller Bedeutung. Um es an einem zentralen Beispiel deutlich zu machen: Parlamente haben das sogenannte “Budgetrecht”, allein sie beschließen über die öffentlichen Haushalte. Die kommunalen Gremien hingegen unterstehen der Aufsicht einer übergeordneten Behörde (z.B. Regierungspräsidium).
Lokaljournalisten sollten den kommunalen Gremien durch Sprachschlampigkeit nicht Kompetenzen andichten, die sie gar nicht haben.